Die Fliege
- At Oktober 14, 2023
- By oska
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I.
Die Fliege fühlte sich sehr wohl auf der Haut. Sie genoss den Geruch, der von ihr ausging. Sie musste jetzt so viel wie möglich davon aufsaugen. Gleich würden die andern kommen. Noch saßen sie in ihren Verstecken. Noch waren ihre Augen kleine Lichtpunkte über dem schwarzen Gras. Noch wurde sie von ihnen genau beobachtet. Würde sie jetzt wegfliegen, dann würden sie wieder tiefer in ihre Verstecke kriechen. Dann würde sie aber den Geruch der Haut verlieren. Sie liebte diesen Geruch. Der Geruch und die Bewegungslosigkeit der Haut ergänzten sich. Es schien der Fliege, als würde sich der Geruch etwas abschwächen, vielleicht als Folge ihres Saugens. Die Fliege machte ein paar Schritte von dem Platz weg, den sie eben noch eingenommen hatte. Der angenehme Geruch wurde wieder stärker. Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, dass ihr Laufen keinen Einfluss auf die Bewegungslosigkeit der Haut gehabt hatte. Für die Fliege war das wichtig. Sie war friedfertig. Sie konnte keinem etwas zu Leide tun. Ihr lag nur daran, den Geruch in sich aufzunehmen. Es war gut, dabei nicht gestört zu werden durch unruhige Haut. Durch Haut, die Bewegung ankündigte. Bewegung, die der Fliege gefährlich werden konnte. Von dieser Haut ging keine Gefahr aus. Ihre vollendete Bewegungslosigkeit garantierte ungetrübten Genuss.
II.
Er lag da, sehr still, fast nackt und ganz bewegungslos. Er hatte versucht, sich daran zu erinnern, wie er in diese Lage gekommen war. Er hatte alle Erinnerungsversuche eingestellt, da sie erfolglos geblieben waren. Er schien allein zu sein. Er schien sich nicht bewegen zu können. Sein Blick streifte über seinen reglosen Körper. Da sah er die Fliege. Er war also nicht ganz allein. Das war für ihn wichtig. Er mochte es nicht, allein zu sein. Allein sein, tot sein, wo war der Unterschied? Er musste darauf achten, die Fliege nicht zu vertreiben. Er musste sich mit seiner Bewegungslosigkeit abfinden. Es war durchaus möglich, dass ihm wenigstens eine kleine Bewegung gelingen könnte, wenn er sich bemühen würde. Er war aber sicher, dass eine erfolgreiche Bemühung ihn zum Alleinsein verdammen würde. Er beschloss, auf Versuche zu verzichten, seine Bewegungsfähigkeit zu erproben. Ein Misserfolg dieser Bemühungen würde ihn deprimieren. Ein Erfolg hätte sein Alleinsein zur Folge. Die Gesellschaft einer Fliege war besser als keine Gesellschaft. Er schaute liebevoll auf die Fliege. Er begehrte ihre Gesellschaft, wie er noch nie eine Gesellschaft begehrt hatte. Die Fliege war für ihn mehr als eine Fliege. Sie war ein Symbol des Lebens.
III.
Die Fliege genoss die Unbeweglichkeit der Haut. Sie garantierte ungetrübten Genuss. Sie war aber auch Ursache der beginnenden Bewegungen im Umfeld. Die Fliege spürte schon leichten Luftzug an ihren sensiblen Flügeln. Die Verstecke wurden wohl gerade geräumt. Ihr friedliches, ungestörtes Aufsaugen des Geruchs der Haut hatte denen Mut gemacht, die bisher in ihren Verstecken Sicherheit gesucht hatten. Sie kamen jetzt näher. Die Lichtpunkte der Augen wurden immer größer. Die Fliege saugte deshalb größere Portionen des betörenden Geruchs. Gleich würde sie wegfliegen müssen, um nicht durch die sich nähernden gierigen Mäuler gefährdet zu werden. Es gab noch eine zweite Möglichkeit. Sie konnte sich ungefährdet auf das Fell hinter einem der Mäuler setzen. Aber der von dort ausgehende Geruch würde den Genuss zerstören, dem sie sich gerade verzückt hingegeben hatte. Die Fliege beschloss, so schnell wie möglich hochzufliegen. Weg von der so herrlich duftenden Haut. Weg von der sich nähernden Gefahr.
IV.
Er sah, wie die Fliege abhob. Er war enttäuscht, verlassen, allein. Seine Augen erfassten die Umgebung. Er sah viele Lichtpunkte über dem Gras. Fragen drängten sich ihm auf. Warum standen die Sterne so tief? Warum kamen die Sterne immer näher? Flog er zu den Sternen oder flogen die Sterne auf ihn zu? War das das Ende der Welt? Er schloss die Augen und wartete auf eine Klärung dieser Fragen.