ganz ehrlich
- At Oktober 14, 2023
- By
- 0
weidmanns nachtgespräche
martin suter
‚wie findest du mich eigentlich?‘
regula weidmann liest beim licht der nachttischlampe ein leiden-schaftliches leben, die biographie von frida kahlo. die art der lektüre verbiet ihr, sich schlafend zu stellen und die frage zu überhören. sie antwortet ohne aufzuschauen. ‚hm?‘
‚wie du mich findest.‘
jetzt schaut regula weidmann von ihrem buch auf. kurt liegt mit offenen augen auf dem rücken, knapp ausserhalb des lichtkegels ihrer lampe. er sollte das nasenhaarscherchen, das ich ihm geschenkt habe, öfter benützen, denkt sie. sie versucht zeit zu gewinnen. ‚wie meinst du das?‘
’so, wie ich es sage. wie findest du mich?‘
regula weidmann lässt das buch auf die bettdecke sinken.
‚warum fragst du das?‘
‚einfach so. es interessiert mich halt. also: wie findest du mich?‘
‚du bist mein mann.‘
einen moment scheint er sich mit der antwort zufriedenzugeben. aber gerade als regula ihr buch wieder hochnimmt, sagt er: ‚ich meine, objektiv.‘
‚wir sind seit achtzehn jahren verheiratet, da ist es schwer, objektiv zu sein.‘
‚versuch es.‘
sie lässt das buch wieder sinken und überlegt.
‚musst du da so lange überlegen?‘ fragt weidmann nach ein paar sekunden. er klingt etwas beleidigt.
‚du meinst so als mensch? ganz allgemein?‘
’nein, nicht als mensch. als mann.‘
regula weidmann schliesst das buch, behält aber einen finger als buchzeichen zwischen den seiten. ‚du meinst, so vom aussehen?‘
‚auch, ja.‘
‚auch?‘
‚und was so dazugehört: ausstrahlung, anziehungskraft, so sachen.‘
weidmann dreht den kopf zur seite und schaut seine frau an. sein gesicht liegt jetzt knapp innerhalb des lichtkegels. keine günstige beleuchtung.
regula weidmann legt frida kahlo aufs nachttischchen und dreht sich zu kurt. vielleicht ist jetzt der moment, das gespräch zu führen, das sie schon so lange führen will. über die letzten paar jahre, die letzten vier, fünf – auch, seien wir ehrlich: acht jahre. seit ‚mitglied des direktoriums‘, genaugenommen. als die abende mit ‚privatbewirtungen‘ zu hause begannen. stundenlang ovolactovegetarisch kochen für gattinnen von männern mit einfluss auf niedrige entscheidungen. und später damenprogramme mit zoo- und museumsbesuchen in gesellschaft von gattinnen von männern mit einfluss auf höhere entscheidungen. kurt, dem die karriere immer wichtiger wurde und sie immer gleichgültiger. vielleicht ist jetzt der moment, über all das zu reden.
‚ich bin froh, dass du das fragst‘, beginnt sie behutsam. ‚ich wollte auch schon lange darüber reden.‘
‚die frage lässt mich nicht mehr los‘, gesteht weidmann erleichtert. ’seit neue untersuchungen bewiesen haben, dass attraktive männer bessere karrierechancen besitzen. sei bitte ganz ehrlich.‘
regula weidmann greift sich ihr buch vom nachttisch. ‚du bist sehr attraktiv, kurt. ganz ehrlich.‘
aus ‚beziehungsstress – geschichten aus der business class‘, diogenes
martin suter, 1948 in zürich geboren, arbeitete bis 1991 als werbetexter und creative director. heute gehört suter zu den erfolgreichsten autoren der schweiz.